Köln Postkolonial

Die Themen:

Personen

„Finde ich keinen Weg, so bahne ich mir einen.“
Der umstrittene „Kolonialheld“ Hermann von Wissmann1

Thomas Morlang


Portrait Hermann von Wissmann

Der 20. Juni 1905 war ein schwüler Tag im Rheinland. Trotz der großen Hitze hatten sich zahlreiche Trauergäste aus ganz Deutschland in der Kölner Von-Werth-Straße 14 eingefunden, wo der Leichnam des berühmten Kolonialoffiziers und Afrikaforschers Hermann von Wissmann im Haus seiner Schwiegereltern aufgebahrt lag. In einer von Anwesenden als „ergreifend“ empfundenen Rede würdigte Divisionspfarrer Franz Kliche Wissmanns Verdienste für das Deutsche Reich und bezeichnete ihn als eine der „Kolumbusnaturen“, die als „Träger eines wahren idealen Fortschritts der Menschheit neue Wege weisen“2. Im Gegensatz zu vielen anderen Persönlichkeiten sei er aber „bescheiden“ und „anspruchslos selbst auf der Höhe seines Ruhmes und Erfolges“ geblieben.

Nach dem Ende der gut halbstündigen Ansprache wurde der Zinksarg aus dem Haus getragen und auf einen mit Kränzen bedeckten Leichenwagen gehoben. Eine Ehrenformation des 5. Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 65 präsentierte das Gewehr. Unter den Klängen von Frédéric Chopins „Trauermarsch“ setzte sich der Trauerzug in Bewegung. An der Spitze schritten die nächsten Verwandten mit dem ältesten Sohn in der Mitte, ihnen folgten zahlreiche Mitglieder von Kolonialvereinen und Veteranenverbänden sowie örtliche Honoratioren. Tausende Kölner säumten die Straßen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Durch Abwesenheit glänzten dagegen der Kaiser, der Reichskanzler und alle übrigen Großen des Reiches. Auf dem Melatenfriedhof sprach der Geistliche noch ein kurzes Gebet, dann wurde der Sarg in der Familiengruft der Familie Eugen Langen beigesetzt. Dort ist das Grab heute noch zu sehen.

Geboren wurde Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann, so sein vollständiger Name, am 4. September 1853 in Frankfurt an der Oder. Mit 17 Jahren trat er in die Armee ein, vier Jahre später erhielt er seine Beförderung zum Leutnant. Die nächsten Jahre verbrachte Wissmann im Mecklenburgischen Füsilierregiment Nr. 90 in Rostock, wo er vor allem durch zahlreiche Streiche auffiel, die ihm die Spitznamen „toller Leutnant“ und „toller Wissmann“ einbrachten. Für ein Pistolenduell, in dem Wissmann seinen Gegner verletzte, musste er sogar eine viermonatige Haftstrafe verbüßen. Zum Wendepunkt in Wissmanns Leben wurde ein zufälliges Treffen mit dem bekannten Afrikaforscher Paul Pogge im Jahr 1879, der in dem jungen Mann die Abenteuerlust weckte. Wissmann ließ sich für längere Zeit beurlauben, um an der nächsten Forschungsreise Pogges teilnehmen zu können.

Im Sommer 1881 brach die Expedition von Angola aus ins Landesinnere auf. Im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft sollte sie bisher noch unbekannte Gebiete in Zentralafrika erforschen. Zu Wissmanns Glück erkrankte Pogge unterwegs so schwer, dass er umkehren musste. So konnte Wissmann, der die Reise fortsetzte und im November 1882 bei Saadani die Ostküste erreichte, den Ruhm für die erste Durchquerung Afrikas von West nach Ost für sich allein beanspruchen. Damit war er innerhalb kurzer Zeit zu einer internationalen Berühmtheit geworden. 1883 bis 1885 erforschte Wissmann im Auftrag des belgischen Königs Leopold II. die Kasai-Region in der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Bei dieser Expedition folgte er erstmals seinem Wahlspruch „Finde ich keinen Weg, so bahne ich mir einen“. Eigenhändig erschoss Wissmann mehrere Afrikaner, die ihn am Weitermarsch hindern wollten. Ein Jahr später war er erneut für Leopold II. in Afrika unterwegs. Diese Expedition ist allerdings nach Meinung des Kulturanthropologen Johannes Fabian kaum noch als wissenschaftliche Reise zu bezeichnen, denn Wissmanns Hauptaufgabe bestand in der „Ordnung der politischen Verhältnisse“ in der Kasai-Region.3 Gesundheitliche Probleme zwangen Wissmann aber schon 1887 zur Rückkehr nach Europa.

Mittlerweile war auch Deutschland in den Kreis der europäischen Kolonialmächte eingetreten. 1884 wurden Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun unter „deutschen Schutz“ gestellt, 1885 auch noch Deutsch-Ostafrika. Doch die deutsche Herrschaft bestand nur auf dem Papier. Im September 1888 zwang ein Aufstand der Küstenbevölkerung das Deutsche Reich zur Aufgabe fast aller in Ostafrika erworbenen Gebiete. Nur die Hafenstädte Bagamoyo und Dar es Salaam konnten gehalten werden. Reichskanzler Otto von Bismarck sah sich zum Eingreifen gezwungen, wollte er nicht den vollständigen Verlust der Kolonie riskieren. Nachdem der Einsatz eines deutschen Kreuzergeschwaders den Widerstand wider Erwarten nicht beenden konnte4, entschloss sich Bismarck zur Entsendung einer Landstreitmacht. Um im Reichstag die nötige Mehrheit für die Finanzierung einer Kolonialtruppe zu erlangen, versuchte er die geplante Intervention in Ostafrika als deutschen Beitrag zum internationalen Kampf gegen die arabischen Sklavenhändler hinzustellen. Dabei bediente sich Bismarck geschickt der von dem französischen Kardinal Lavigerie ins Leben gerufenen Antisklavereibewegung, der er anfangs noch ablehnend gegenübergestanden hatte. Die Gegner des Sklavenhandels sorgten durch zahlreiche Propagandaaktionen dafür, dass weite Teile der Bevölkerung in einen regelrechten „Antisklavereirausch“ gerieten.5 Höhepunkt der Kampagne war die große Volksversammlung im Kölner Gürzenich am 27. Oktober 1888.

Zu den Rednern auf der Veranstaltung gehörte auch Hermann Wissmann, der „Selbsterlebtes aus Afrika“ zum Besten gab. Der junge Offizier hatte während seiner Reisen in Afrika eine tiefe Abneigung gegen alle Araber, für ihn „die Pest Afrikas“, entwickelt, weshalb er die Antisklavereibewegung in ihrer Agitation bereitwillig unterstützte.6 In seinem eher emotional gehaltenen Vortrag schilderte Wissmann den zahlreichen Anwesenden, wie er auf seiner zweiten Reise ein Dorf betrat, das angeblich kurz zuvor von Sklavenhändlern überfallen worden war: „Die Vegetation war vernichtet und alles verwüstet. Wir fanden einen schon gebleichten Schädel, abgehauene Menschenhände, die schon von Haut und Fleisch entblößt waren. […] Wir zogen weiter und fanden Tag für Tag in jedem Dorfe das gleiche Schauspiel.“7 Damals habe er die „Räuberbande“ mangels ausreichender Machtmittel nicht für ihre Verbrechen bestrafen können, das solle nun möglichst bald nachgeholt werden. Am Ende der Veranstaltung verabschiedeten die Teilnehmer einstimmig eine Resolution, in der das Deutsche Reich zum militärischen Eingreifen gegen die arabischen Sklavenhändler aufgefordert wurde. In vielen deutschen Städten fanden danach ähnliche Versammlungen statt.

Angesichts des zunehmenden öffentlichen Drucks fiel die bis dahin eher kolonialkritisch eingestellte Zentrumspartei um. Am 14. Dezember 1888 beantragte der Zentrums-Abgeordnete Ludwig Windthorst, der Reichstag möge zwei Millionen Reichsmark für den Aufbau und Unterhalt einer aus deutschen Offizieren und Unteroffizieren sowie aus afrikanischen Söldnern, den so genannten Askari, zu bildenden Streitmacht bewilligen. Nach heftigen Debatten erhielt der Antrag schließlich die erforderliche Mehrheit. Zum Befehlshaber der ersten deutschen Kolonialtruppe bestimmte Bismarck den Afrika erfahrenen Hermann Wissmann. In einer schneidigen Rede vor dem Reichstag erläuterte der neue Reichskommissar am 26. Januar 1889 den Parlamentariern sein Aktionsprogramm. Mit Güte und Nachgiebigkeit seien die Schwierigkeiten niemals zu beseitigen, Verhandlungen kämen für ihn daher nicht in Frage, nur mit Gewalt könne „den Aufständischen eine gründliche Lehre erteilt und unser in Ostafrika schwer geschädigtes Ansehen wiederhergestellt“ werden.8 So war denn auch Wissmanns erste Amtshandlung, den von Konteradmiral Karl August Deinhard, dem Kommandeur des Kreuzergeschwaders, mit den Aufständischen geschlossenen Waffenstillstand aufzukündigen.

Vollste Unterstützung fand er dabei beim Reichskanzler. Angeblich war das Vertrauen Bismarcks in den jungen Oberleutnant damals so groß gewesen, dass er ihm für sein Vorgehen völlig freie Hand ließ: „Ich bin nicht der kaiserliche Hofkriegsrat in Wien, und Sie sind Tausende von Meilen entfernt“, soll er Wissmann mit auf den Weg gegeben haben, „stehen sie auf eigenen Füßen. Ich gebe Ihnen immer nur wieder den Auftrag: Siegen Sie!“9 Tatsächlich aber erhielt Wissmann genaue Instruktionen für sein Vorgehen in Ostafrika. Danach hatte der Reichskommissar erst einmal in der Umgebung von Bagamoyo und Dar es Salaam geordnete Verhältnisse zu schaffen, bevor er die ebenfalls im Norden des Landes liegenden Hafenstädte Tanga und Pangani angreifen durfte. Waren diese Ziele erreicht, sollte Wissmann Vorschläge für die Eroberung des Südens einreichen. Von Feldzügen ins Landesinnere, die über einen Tagesmarsch hinausgingen, bat Bismarck abzusehen.10 Doch Wissmann hielt sich nicht an diese Bitte. Im September 1889 unternahm er sehr zum Unwillen des Reichskanzlers einen mehrmonatigen Feldzug ins Hinterland von Bagamoyo. „Märsche ins Innere kann ich nicht befürworten“, schrieb Bismarck verärgert an den Rand des von Wissmann eingereichten Berichts.11

Zu diesem Zeitpunkt hatte Wissmann den Aufständischen unter ihrem Führer Bushiri bin Salim al-Harthi bereits mehrere Niederlagen zufügen können. Dabei wandte Wissmann stets die gleiche Taktik an. Zuerst überschüttete seine Artillerie den Gegner mit einem kurzen, aber heftigen Feuer, dann folgte ein „energisch durchgeführter Bajonettangriff“.12 Manche Gefechte entwickelten sich zu regelrechten Massakern. So gerieten bei der Eroberung von Pangani am 8. Juli 1889 rund 200 Aufständische in das Schnellfeuer eines Maschinengewehrs. Nach nur zwei Minuten bedeckten über 30 Tote und 50 Verwundete den Boden. Eroberte Ortschaften ließ Wissmann plündern, wobei sich mehr als einmal afrikanische Söldner mit deutschen Seeleuten um die Beute stritten. Danach wurden die Dörfer und Städte in Brand gesteckt, die umliegenden Felder verwüstet. Damit gebührt Wissmann der zweifelhafte Ruhm, als erster in einem von Deutschen geführten Kolonialkrieg die Taktik der „Verbrannten Erde“ angewandt zu haben.

Obwohl erfolgreich, fand die Kriegführung Wissmanns, die selbst von Kolonialoffizieren als „äußerst grausam“13 bezeichnet wurde, nicht nur Zustimmung in Deutschland. In einer Rede vor dem Reichstag beklagte der linksliberale Abgeordnete Eugen Richter am 30. Oktober 1889 die Zustände in Ostafrika: „Wir lasen neulich, dass Herr Wissmann schon 700 Araber und Aufständische, wie sie genannt werden, hätte erschießen lassen, wir hören, dass bald dieses, bald jenes Dorf in Flammen aufgeht. Seine Truppen ziehen sengend und brennend umher, und die Aufständischen tun dergleichen, und das ganze nennt man in der Sprache der vorjährigen Thronrede ‚Kultur und Gesittung nach Afrika tragen!’“14

Mit den Anführern der Widerstandsbewegung, von den Kolonialherren häufig als „Rädelsführer“ oder „Sklavenhändler“ bezeichnet, machte Wissmann zumeist kurzen Prozess. Wer sich der Kolonialmacht zu widersetzen wagte, musste damit rechnen, nach seiner Gefangennahme vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt zu werden. „Ohne Ausnahme wurden diese Halunken“, so der Kolonialoffizier Georg Maercker, „von Wissmann zum Tode durch Erschießen oder durch den Strang verurteilt und nicht allzu gering ist die Zahl derer, die mit ihrem Körper in den Küstenorten den Galgen oder eine Palme geziert haben.“15 Um seinem Vorgehen einen Hauch von Rechtmäßigkeit zu verleihen, hatte Wissmann schon gleich nach seiner Ankunft die ganze Küste unter Kriegsrecht gestellt. Dabei erfolgten Verurteilungen rein willkürlich. Auf Schonung hoffen konnte derjenige, der für die Kolonialherren in Zukunft eventuell noch von Nutzen war. So begnadigte Wissmann einen Sohn Bwana Heris, dem wichtigsten Aufstandsführer im Süden des Landes, obwohl dieser den Tod eines britischen Missionars und 15 seiner Träger zu verantworten hatte. Bushiri dagegen ließ Wissmann hängen, weil er von den Deutschen nicht „irgendwie auszunutzen“ war.16 Kritiker des Reichskommissars wie der deutsche Generalkonsul auf Sansibar, Gustav Michahelles, bezeichneten Wissmanns Herrschaft denn auch als „Militärdiktatur“.17

Schon damals war Wissmann eine äußerst umstrittene Persönlichkeit. Seine zahlreichen Bewunderer, die in ihm „Deutschlands größten Afrikaner“ sahen, verfassten wahre Lobeshymnen auf Wissmann. Dem Feldmarschall Helmuth von Moltke beispielsweise machte der „ausgezeichnete Kerl“ Freude, weil er „feste da unten“ vorging und alle „Schufte“ hängen ließ.18 Untergebene wie der Kolonialoffizier Tom von Prince lobten den Reichskommissar als einen „Mann wie für die Verhältnisse geschaffen, Widerspruch nicht duldend, im Dienst scharf, Unmöglichkeiten verbietend, gute Leistungen reichlich lohnend, schlechte rücksichtslos tadelnd, außer Dienst mit vergnügtem Wort jeden ermunternd, bei keiner Gelegenheit um einen guten Witz verlegen […]“.19 Nicht gerade gering war allerdings die Zahl derer, die keine hohe Meinung von Wissmann hatten. Zu ihnen gehört Konteradmiral Deinhard, den Wissmann durch seine arrogante Art und sein undiplomatisches Auftreten ziemlich verärgerte. Er hielt den Reichskommissar für „einen recht mäßig begabten Menschen, der weder als Offizier noch als Organisator noch administrativ hervorragt, nur sich selbst anerkennt, alles hängen will und jeden anderen für einen schlappen Ignoranten ansieht. […] Dabei ist er taktlos, nicht im Stande, seine Instruktionen zu verstehen und vom Größenwahn völlig verblendet“.20

Nach einem Jahr heftiger Kämpfe konnte Wissmann endlich im Mai 1890 die vollständige Eroberung der ostafrikanischen Küste nach Berlin melden. Daraufhin wurde der Reichskommissar nach Deutschland beordert, um dort seine Pläne für die weitere Entwicklung der Kolonie vorzustellen. Sein Aufenthalt in der Heimat geriet zum Triumphzug. Auch in Köln, wo Wissmann kurz Station machte, jubelten ihm die Massen zu. Zu Recht schrieb die Kölnische Zeitung, dass dem Reichskommissar „zu den Zeiten des alten Rom dorten die Ehre des Triumphes zuteil geworden wäre“.21 In Berlin erhielt er seine Beförderung zum Major, wurde mit Orden überhäuft und vom Kaiser in den erblichen Adelsstand erhoben. Wissmann war auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Doch schon bald erfolgte der jähe Absturz. Knapp ein Jahr später enthob Wilhelm II. den gefeierten Kriegshelden seiner Stellung.

Grund für die Entlassung war der leichtfertige Umgang Wissmanns mit Steuergeldern. Zum einen hatte die Niederschlagung des Aufstands statt 2 Millionen Mark, wie ursprünglich in einem Gutachten von Wissmann veranschlagt, die gewaltige Summe von 9 ½ Millionen gekostet. Vor allem im Auswärtigen Amt machte er sich damit Feinde. Dort war man der Meinung, „dass das doch eine ganz unerhörte Wirtschaft sei, erst einen Etatsanschlag von 2 Millionen zu machen, und zuletzt dahin zu kommen, dass das Vier- oder Fünffache gebraucht wird“.22 Zum anderen hatte es Wissmann nicht so genau mit der Buchhaltung seiner Ausgaben genommen. Eine Nachprüfung im April 1891 ergab ein Defizit von immerhin 43.000 Mark für das Rechnungsjahr 1889/90. Zwar reduzierte sich die Summe bis zum Jahr 1895, weil nachträglich noch einige Belege eingereicht wurden, doch immer noch bestand ein Fehlbetrag von rund 10.000 Mark. Freunde von Wissmann machten allein „Intrigen“ für seine Entlassung verantwortlich, mussten aber gleichzeitig einräumen, dass er wohl „auch selbst durch sein wenig diplomatisches Verhalten dem Auswärtigen Amt gegenüber seinen Feinden ihre Wühlarbeit“ erleichtert habe.23 Damit wurde nichts aus Wissmanns Traum, nach der Übernahme der Verwaltung durch das Reich erster Gouverneur von Deutsch-Ostafrika zu werden.

Trotzdem durfte er im Kolonialdienst bleiben. Allerdings musste er sich als Reichskommissar zur besonderen Verfügung dem neuen Gouverneur Julius von Soden unterstellen. Dieser übertrug ihm die Aufgabe, die deutsche Macht an der Westgrenze der Kolonie, die durch die großen zentralafrikanischen Seen gebildet wurde, zu etablieren. Dazu sollte ein Dampfer zu den Seen gebracht werden, dessen Bau und Transport zum großen Teil vom Komitee der Antisklavereilotterie finanziert wurde. Aber nach der Vernichtung der Zelewski-Expedition im August 189124, bei der 10 Deutsche und fast 300 Askari umkamen, untersagte Soden vorerst jede weitere Unternehmung ins Landesinnere. Erst ein Jahr später, am 14. Juli 1892, konnte Wissmann in Richtung Nyassa-See aufbrechen. Seine Begeisterung für diese Aufgabe hielt sich allerdings in Grenzen: „Die einzige Triebfeder zu meiner jetzigen Tätigkeit ist Pflichtgefühl; Lust und Vergnügen an der jetzigen Arbeit habe ich nicht“, ließ er seine Mutter wissen.25 Im April 1893 erreichte die Expedition endlich den See. Während das Schiff auf der neu gegründeten Station Langenburg zusammengebaut wurde, bekriegte Wissmann die in der Umgebung lebenden Stämme, um sie zur Anerkennung der deutschen Kolonialherrschaft zu zwingen. Dabei soll er laut dem Historiker Bernhard Gondorf am 7. Juli ein furchtbares Massaker unter 5.000 Wawemba angerichtet haben.26 Nach der Fertigstellung des Dampfers verließ er die Kolonie und kehrte im Frühjahr 1894 nach Europa zurück.

Während der Vorbereitungen für seine Dampfer-Expedition hatte Wissmann in Ägypten Hedwig Langen, die Tochter des Kölner Ingenieurs und Geschäftsführers der Antisklavereilotterie Eugen Langen, kennen und wohl auch lieben gelernt. Im September 1894 wurde offiziell die Verlobung der beiden bekannt gegeben. Während der Vorbereitungen der Hochzeit, die in Köln stattfinden sollte, zeigte sich, dass Wissmann trotz seiner „Degradierung“ immer noch zahlreiche Bewunderer hatte. Die Kölner nutzten seine mehrwöchige Anwesenheit in der Domstadt und veranstalteten ein Festmahl für den „Kolonialhelden“ im großen Saal des Kasinos. Unter den über 200 geladenen Gästen befand sich der Reichstagsabgeordnete Franz Prinz von Arenberg, mehrere Generäle sowie als Vertreter für den verreisten Oberbürgermeister der Beigeordnete Jansen. Der Ehrengast erschien in Begleitung seines zukünftigen Schwiegervaters. Mehrere Redner, darunter Arenberg, würdigten Wissmanns Verdienste für die deutsche Kolonialpolitik, die Mission und die Geographie. Während des Essens erreichte der Personenkult um Wissmann seinen Höhepunkt, als die Anwesenden ein von dem bekannten Kölner Schriftsteller Johannes Fastenrath eigens für Wissmann geschaffenes Lied sangen.

Nach Beendigung des Festmahls fand ein Festkommers im „dicht gefüllten“ Gürzenich statt. Wieder feierten zahlreiche Redner Wissmanns „Heldentaten“. Schließlich sollte der Gefeierte auch einmal zu Wort kommen und von der Überbringung des Dampfers „Hermann von Wissmann“ zum Nyassa-See „nun selbst zu berichten“. Wissmann war allerdings hiervon offenbar alles andere als begeistert und schilderte nur in „großen Zügen“ den Verlauf der Expedition, ohne jedoch, wie der Reporter einer Kölner Zeitung enttäuscht in seinem Artikel schrieb, „neue Tatsachen zu bringen“.27 Auch Wissmans Adjutant Theodor Bumiller, der über das Ende der Unternehmung erzählen sollte, war nicht gerade in Redelaune. Er erledigte seine Aufgabe ebenfalls „in knapper Form“. Die Feier endete mit dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne. Einige Wochen später, am 20. November 1894, heiratete Hermann von Wissmann seine Verlobte in der Kölner Trinitatiskirche. Nach der Hochzeitsreise bezog das Paar eine Villa im heutigen Berliner Stadtteil Grunewald.

Wissmanns Aufenthalt in Deutschland sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein, denn sein Wunsch, Gouverneur von Deutsch-Ostafrika zu werden, ging doch noch in Erfüllung. Anfang 1895 wurde der amtierende Gouverneur Friedrich von Schele abberufen, weil er nach Meinung der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt zu häufig Krieg geführt hatte. Als neuen Mann an der Spitze schlug Reichskanzler Chlodwig von Hohenlohe Hermann von Wissmann vor. Auch die Kolonialabteilung votierte für den ehemaligen Reichskommissar, vor allem, um den sich ebenfalls Hoffnung machenden Carl Peters auf diesem Posten zu verhindern.28

Kaiser Wilhelm II. war von dem Vorschlag wenig angetan, stimmte der Ernennung dieses „bloßen Condottiere“ [Söldnerführers], wie er Wissmann abfällig nannte, aber schließlich doch zu.29 Allerdings brachte er es nicht über sich, ihm, wie seinem Vorgänger, auch das Kommando über die „Kaiserliche Schutztruppe“ zu übertragen. Ende Juli 1895 traf der neue Gouverneur in der Kolonie ein mit der strikten Anweisung, „dass nun endlich mit dem Kriegführen aufgehört werden müsse“.30

An diese Order hielt Wissmann sich nur teilweise. Zwar schloss er im Dezember 1895 mit dem seit 1891 hartnäckig Widerstand leistenden Hehe-Herrscher Mkwawa einen Friedensvertrag.31 Gegen andere so genannte „Rebellen“ ging Wissmann dagegen wie früher mit „größter Schärfe und Strenge“ vor, da „Milde“, so seine Entschuldigung, „in diesem Fall nur als Schwäche“ gedeutet worden wäre.32 Trotz anders lautender Weisungen ließ er die Kolonialtruppe zwischen August 1895 und Mai 1896 immerhin zu sechs größeren kostspieligen Feldzügen ausrücken.33 Gefangene „Rädelsführer“ wie der angebliche „Sklavenräuber“ Hassan bin Omari wurden vor ein Kriegsgericht gestellt und meist zum Tode durch den Strang verurteilt. Bewundernd erinnert sich Wissmanns Vetter, Oberleutnant Victor von Wissmann, dass der Gouverneur nie „falsche Weichherzigkeit“ gezeigt habe, wenn er ihm die Urteile „des Standgerichtes“ überbrachte. Bei den Exekutionen war Wissmann persönlich anwesend. Dabei versuchte er mit „eiserner Energie“, den Hinrichtungen „das Gepräge einer ernsten und feierlichen Handlung“ zu geben und „überflüssige [!] Grausamkeiten“ zu vermeiden.34 Allein nach Beendigung der „Strafexpedition“ gegen Hassan bin Omari im Januar 1896 wurden 13 Afrikaner hingerichtet. 16 weitere Todesurteile wandelte der Gouverneur in langjährige Freiheitsstrafen um, da seiner Meinung nach durch die bisherigen Aburteilungen „das Ansehen der Regierung gegenüber der Bevölkerung bereits in ausreichendem Maße wiederhergestellt“ worden sei.35

Wissmans Amtszeit währte jedoch nur kurz. Nach nicht einmal einem Jahr verließ er Deutsch-Ostafrika schon wieder und bat um die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, der ihm auch gewährt wurde. Der Hauptgrund für Wissmanns Rücktritt war sein schlechter Gesundheitszustand, eine nicht unbedeutende Rolle spielte aber auch, dass er sich nicht mit der Beschneidung seiner Befugnisse durch den Kommandeur der Schutztruppe, Lothar von Trotha, abfinden konnte. Auch wenn Wissmann nur wenige Monate in Deutsch-Ostafrika wirken konnte, hatten einige der von ihm initiierten Verordnungen weit reichende Folgen für die Entwicklung der Kolonie. Hierzu zählt vor allem die von ihm vorbereitete und von seinem Nachfolger eingeführte Hüttensteuer für die afrikanische Bevölkerung. Wissmann wollte den Einheimischen „durch die Auferlegung einer Pflicht auch äußerlich die Tatsache unserer Herrschaft“ demonstrieren.36 Er erwartete, dass die „Eingeborenen“ Verständnis dafür aufbringen würden, für „Leistungen“ der Kolonialmacht eine Gegenleistung erbringen zu müssen und nicht alle „Wohltaten“ als selbstverständlich hinzunehmen. Hier irrte Wissmann jedoch gewaltig. Die zunehmende Bedrückung der Bevölkerung durch die von den Deutschen eingeführten Steuern waren im Juli 1905 mit ein Grund für den Ausbruch des Maji-Maji-Krieges, dem zwischen 75.000 und 300.000 Afrikaner zum Opfer fielen. Diesen Aufstand sollte Hermann von Wissmann allerdings nicht mehr erleben. Am 15. Juni 1905 starb er bei einem Jagdunfall in Österreich.


Hermann von Wissmann „bei den Seinen in Lauterberg“

1 Überarbeitete und ergänzte Fassung meines Artikels „Finde ich keinen Weg, so bahne ich mir einen.“ Der umstrittene „Kolonialheld“ Hermann von Wissmann, in: „…Macht und Anteil an der Weltherrschaft“. Berlin und der deutsche Kolonialismus, hrsg. von Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller, Münster 2005, S. 37-43.
2 Alexander Becker u. a.: Hermann von Wissmann. Deutschlands größter Afrikaner, Berlin 1907 (2. Aufl.), S. 568.
3 Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001, S. 239.
4 Zum Einsatz der Marine vor Ostafrika ausführlich Thomas Morlang: Ein Schlag ins Wasser. Schon einmal, 1888/89, überwachte Deutschlands Marine im Namen der Freiheit die ostafrikanische Küste, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 17. Januar 2002, S. 86 (http://www.zeit.de/archiv/2002/04/200204_a-blockade.xml).
5 Zit. nach Klaus J. Bade: Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution – Depression – Expansion, Freiburg i. Br. 1975, S. 332.
6 Hermann Wissmann, Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost. Von 1880 bis 1883 ausgeführt, Berlin 1889 (2. Aufl.), S. 17.
7 Wider die Sklaverei! Bericht über die Verhandlungen der Volksversammlung im Gürzenich zu Köln am 27. Oktober 1888, Düsseldorf [1888], S. 42-44.
8 Rochus Schmidt: Deutschlands Kolonien. Ihre Gestaltung, Entwicklung und Hilfsquellen, Bd. 1, Berlin 1894, S. 69.
9 Becker 1907, S. 180.
10 Bundesarchiv Berlin (BArch), R 1001, Bd. 735, Bl. 41-50. Instruktionen Bismarcks an Wissmann, 12. 02. 1889.
11 BArch, R 1001/744, Bl. 27f. Bericht Wissmanns vom 01. 01. 1890.
12 Georg Maercker: Unsere Schutztruppe in Ost-Afrika, Berlin 1893, S.200.
13 Ebenda, S. 201f.
14 Zit. n. Jutta Bückendorf: „Schwarz-weiß-rot über Ostafrika!“ Deutsche Kolonialpläne und afrikanische Realität, Münster 1997, S. 409.
15 Maercker 1893, S. 154.
16 Schmidt 1894, S. 112.
17 Bückendorf 1997, S. 445.
18 Becker 1907, S. 261.
19 Tom von Prince: Gegen Araber und Wahehe. Erinnerungen aus meiner ostafrikanischen Leutnantszeit 1890-1895, Berlin 1914 (2. Aufl.), S. 8.
20 Deinhard an Oberkommando Marine, 08. 06. 1889. Zit. n. Fritz Ferdinand Müller: Deutschland – Zanzibar – Ostafrika. Geschichte einer deutschen Kolonialeroberung 1884-1890, Berlin (Ost) 1959, S. 441, Anm. 54.
21 Zit. nach Becker 1907, S. 335.
22 Ebenda, S. 428f.
23 Werner Steuber: Arzt und Soldat in drei Erdteilen, Berlin 1940, S. 39.
24 Zur Niederlage des Expeditionskorps am 17. August 1891 ausführlich Thomas Morlang: „Die Kerls haben ja noch nicht einmal Gewehre“. Die Vernichtung der Zelewski-Expedition in Deutsch-Ostafrika im August 1891, in: Militärgeschichte 11 (2001), S. 22-28.
25 Becker 1907, S. 397.
26 Bernhard Gondorf: Das deutsche Antisklaverei-Komitee in Koblenz, Koblenz 1991, S. 14.
27 Zit. nach Brami Andreae: Die afrikanische Herausforderung. Das Wirken dreier Generationen einer deutschen Familie, Windhoek 1999, S. 77.
28 Vgl. hierzu Arne Perras: Carl Peters and German Imperialism 1856-1918. A Political Biography, Oxford 2004, S. 206-208.
29 Heinrich Schnee: Als letzter Gouverneur in Deutsch-Ostafrika. Erinnerungen, Heidelberg 1964, S. 13.
30 Alexander Becker: Aus Deutsch-Ostafrikas Sturm- und Drangperiode. Erinnerungen eines alten Afrikaners, Halle an der Saale1911, S. 173.
31 Zum Friedensvertrag siehe Thomas Morlang: „Die Wahehe haben ihre Vernichtung gewollt.“ Der Krieg der „Kaiserlichen Schutztruppe“ gegen die Hehe in Deutsch-Ostafrika (1890-1898), in: Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, hrsg. von Thoralf Klein und Frank Schumacher, Hamburg 2006, S. 80-108, hier S. 86.
32 Becker 1907, S. 454.
33 Vgl. den offiziellen Gefechtskalender der Schutztruppe, abgedr. in: Ernst Nigmann: Geschichte der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, Berlin 1911, S. 151.
34 Becker 1907, S. 454f.
35 Deutsches Kolonialblatt 7 (1896), S. 69.
36 Becker 1907, S. 438.

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Letzte Aktualisierung am: 04.11.2023